Im Zugabteil im Nirgendwo

 

„In meinem Abteil ist es angenehm ruhig. Die Raumtemperatur ist angenehm. Ein Hauch von kaltem Zigarettenrauch ist wahrnehmbar, jedoch nicht störend. Das Abteil ist in Brauntönen gehalten und das Interieur ist großteils aus dunklem Holz. Noch sitze ich alleine hier. Das könnte sich jeden Moment ändern.

Eine Frau steigt zu. Sie öffnet die Tür so leise, dass ich sie erst wahrnehme, als sie schon ganz im Zugabteil steht. Sie setzt sich gegenüber von mir auf die mit weichem Stoff überzogene Sitzbank. Sie trägt einen Hut mit gefärbten Federn. Blau und weiß schimmert ihr ganzer Kopf. Auch ihre Kleidung ist in Blautönen gehalten. Sie hat ein kleines Schirmchen dabei. Das hat man in der feineren Gesellschaft neuerdings immer dabei. Ich glaube, es ist weniger ein Modeassessoir, denn ein Ding, an dem man sich festhalten kann – seine Unsicherheit überspielen kann – oder ganz einfach zart und verletzlich wir ein kleiner Vogel wirken kann.

 

Sie ist nicht scheu und blickt mich an. Eine selbstbewusste Frau. Sie wirkt zielstrebig und geradelinig, obwohl ihr Kleid das Gegenteil ausdrückt. Vielleicht ist es gerade diese Mischung, die sie interessant macht.

Reden wir oder sitzen wir uns stumm gegenüber? Wir haben uns nur zugenickt und das reicht schon fürs Erste. Vielleicht werden wir gesprächiger, wenn der Zug abfährt.

Ein Ruck geht durch das Abteil und der Zug setzt sich jetzt tatsächlich in Bewegung. Als die Landschaft ein wenig später schneller vorbeizieht, macht sich ein Aufatmen bemerkbar. Leichtigkeit stellt sich jetzt ein. Die Reise beginnt jetzt Gestalt anzunehmen. Sie wird wahr. Vorher war sie nur eine Theorie, ein Plan. Jetzt sitze ich hier, blicke aus dem Fenster und sehe die noch graue Landschaft vorbeiziehen. Aus den Augenwinkeln heraus nehme ich wahr, dass die Dame vis-a-vis ebenfalls aus dem Fenster sieht. Ihr Gesicht spiegelt sich in der Glasscheibe. Meine Augen fokussieren sich einmal auf die Landschaft und dann wieder auf ihre Reflexion in der Scheibe.

Noch immer haben wir kein Wort miteinander gewechselt. Das ist nicht unangenehm und es ist auch nicht so, dass es einen drängt, etwas sagen zu müssen. Stille Übereinkunft des Schweigens. Im Schweigen ruht die Liebe. Sie benötigt keine Worte. Das Schweigen verbindet uns – mehr als das Gesprochene. Im Gesprochenen wohnt der Irrtum. Im Stillen das Wissen. Vielleicht bin ich deshalb so schweigsam. Doch kann ich es mir nicht mehr länger verkneifen, sie anzusehen. Kurze Momente nutze ich dazu. Ich möchte unbedingt ihre Augenfarbe erkennen ohne sie zu kompromitieren. Das würde alles zerstören, was wir in der Stille aufgebaut haben. Dass sie ein jugendliches Gesicht hat, habe ich schon erkannt. Ein offenes, freundliches Gesicht. Das Gesicht des wahren Lebens. Eine unbändige Kraft, ein selbstverständliches Vertrauen in das Sein drückt es aus. So jung und schon so weise. Wie ein kleiner Junge komme ich mir vor. Ob sie das auch so spürt?

Es ist absurd, doch wächst eine Art Liebe in mir für diesen Menschen. Einen Menschen, den ich erst vor kurzem zum ersten Mal in meinem Leben gesehen habe. Mit dem ich noch kein einziges Wort gewechselt habe. Ich lehne mich in meinen Polster zurück und genieße dieses Gefühl mit einem leichten Lächeln auf dem Mund. Ich öffne ganz bewusst mein Herz und halte es nicht zurück, dieses Gefühl, das nun das ganze Abteil zu erfüllen scheint. Ganz hell wird es um mich. Ich löse mich auf in dem Licht der Liebe und erfülle somit alles, das mich umgibt, mit mir. Mit mir und mit meiner Liebe. Ich weiß, dass sie es spürt und es ebenfalls genießt. Sie schließt ihre Augen und gibt vor zu schlafen, jedoch weiß ich, dass sie die Augen nur schließt, um dieses Gefühl der Liebe ganz aufzunehmen. Ohne Ablenkung durch die Augen. Ihre Augen sind jetzt ganz entspannt. Kein Zucken der Augenlider. Nur noch entspanntes Aufsaugen mit allen Poren ihres Seins. Meine Liebe. Ihre Liebe. Universelle Liebe. Und das alles in diesem kleinen Zugabteil im Nirgendwo. Alles ist egal. Alles unwichtig. Die Zeit steht still. Egal für wie lange. Wir schweben dahin. Der Beginn der Reise ist gleichsam das Ziel. Wir werden aus diesem Zug nicht mehr aussteigen. Wir reisen ins Unendliche. Der Zug hebt ab, verlässt seine starren Geleise und folgt unserer Reise. Warum auch soll er vorgefertigten Bahnen folgen, wenn er mit uns eins sein kann auf dem Weg der Liebe. Und so treiben wir dahin. Der Zug, wir beide und unser Gefühl der unendlichen Glückseligkeit. Wir drehen uns spiralig im Raum und verschmelzen zu einem Spiralnebel. Wir treiben aufs offene Meer der Sterne und Planeten. Ein Lichtermeer. Wir drehenden Derwische der Liebe gleiten im schwerelosen Raum der Lichter. Sternenstaub umhüllt uns, glitzert um uns und wir atmen ihn ein – diesen Staub der Erkenntnis. Diesen Staub unserer Heimat. Er nährt unsere Seelen. So fühlt sich Unendlichkeit an. So fühlt sich Heimkommen an."