Vor dem Zirkuszelt ist Tag. Im Zirkuszelt ist Nacht. Nacht bedeutet Träume. Tag bedeutet Realität mit all ihrer Schärfe und Klarheit für die Tristesse und das Elend des Lebens. Wer möchte da nicht auch den Tag verschlafen? Wollen wir nicht alle träumen?
Vor dem Zelt ist das Gras, das im Frühjahr noch leuchtend grün war, niedergetreten, zertrampelt von den vielen Füßen, die es eilig hatten, in die Nacht zu treten. Der Vorplatz sieht jetzt aus wie
eine Steppe. Wenn es regnet wie ein schlammiges Feld. Dann klebt die Erde hartnäckig an den Schuhen. So als wolle sie einen zwingen, auf dem Boden zu bleiben. Die Menschen machen sich nicht die
Mühe, die Erde von den Schuhen zu streifen und tragen somit einen Teil des Außen ins Innere des Zeltes.
Auf der Rückseite des Zirkuszeltes – wenn man denn von einer Rückseite sprechen kann bei einem Kreis, und das Zelt ist kreisförmig – also, auf der Rückseite des Zirkuszeltes, was bedeutet an der
gegenüberliegenden Seite des Haupteinganges, haben die Artisten ihre fahrenden Wohnkutschen abgestellt. Es sind hölzerne Fahrzeuge, die an kleine Eisenbahnwaggons erinnern. Einige haben winzige
Fenster an den Seiten, die mit bunten Vorhängen geschmückt sind. Manchmal findet man einen hölzernen Blumenkasten vor den Fenstern. Farbtupfen auf der grauen Leinwand des Daseins. In einem dieser
Wagen liegt Oskar auf seinem klapprigen Eisenbett. Schnarchend. Er ist nicht zugedeckt und ein Bein steht auf dem Boden, so als ob er ausbalanciert, um nicht aus dem Bett zu fallen. Sogar jetzt
trägt er noch sein Trikot. Er hatte es eilig, seine Flasche zu leeren, um dem Tag so rasch als möglich zu entfliehen. Er leert viele Flaschen am Tag. Der Tag ist lang – und einsam. Oskar redet
nicht viel und nicht viele reden mit ihm. So zieht er sich nach seiner Vorstellung und nach seinen Trainingseinheiten gleich zurück, schüttet sich den Alkohol die Kehle runter und hofft auf einen
kurzen Tag. Manchmal schauen die Kleinwüchsigen durch das schmutzige Glasfenster seines Wagens, um nach dem Rechten zu sehen. Sie bewundern Oskar heimlich, da er groß und stark ist. Fast zweimal
so groß als sie selbst. Wenn sie so groß und stark wären, was würden sie da alles anstellen. Zuerst einmal ihren Peinigern die Seele aus dem Leib prügeln. Die angestaute Wut ablassen. Das Ventil
öffnen, wie eine Dampflok, die schnauft und dann mit aller Kraft den Dampf aus ihrem Schornstein in den Himmel stößt – tuuuuuut. Tuuuuut. Alleine der Gedanke daran tut gut und wärmt die Seele.
Wenn sie Oskar lange genug durch die Scheibe beobachtet haben, springen sie von ihrer kleinen Holzleiter, die sie benutzen, um überhaupt durch das Fenster schauen zu können und laufen mit ihren
kurzen krummen Beinen weiter. Sie haben immer etwas zu tun. Sie sind die Wirbelwinde, die über die Steppe ziehen und all die Energien hier verwirbeln. Dadurch kann man nichts Konkretes greifen –
alles ist in dem Brei des Allerlei gefangen.