Ich sehe die Elefanten im Zirkus, die Artisten, rieche den von Tierexkrementen durchtränkten Sand der Manege. Ein Geruch wie in einem Stall. Nicht so scharf aber annähernd derselbe. Er gibt Wärme ab. Diese vom Geruch durchdrungene Wärme macht die ganze Atmosphäre aus.
Ich rieche auch ganz zart den Schweiß der Artisten. Ihre Schminke. Das alte Holz der Sitzreihen. All das vermischt sich zu einem Bild. Zu einer Emotion. Ich tauche komplett ein in den Zirkus. Ich
bin Zirkus. Ich bin jedes Ding hier. Die goldenen Knöpfe am Jacket des Zirkusdirektors. Die Spitze der Peitsche, die über den Köpfen der Tiger knallt. Die übergroßen Schuhe der dummen Clowns. Die
Geige des traurigen Clowns. Der große Holzpfeiler in der Mitte der Manege, der das ganze Zirkusdach trägt. Die abgesplitterte Farbe auf den Sitzbänken. Das Drahtseil der Hochseilartisten. Der
Handstab, mit dem sie ihren Körper ausbalancieren. Die komisch anmutenden Ballettschuhe, die sie tragen. Der Dirigentenstab des Orchesterdirigenten. Der Kopfschmuck der Elefanten. Die vor
Aufregung roten Gesichter der Kinder in den ersten Reihen. Das Lama. Die Hunde. Die Kamele und Dromedare. Das ganze Kaleidoskop einer Welt der Wunder und Illusionen. Das zum Märchen gewordene
Dasein der Menschen in ihrer wundersamen Welt.
Und da gibt es auch diejenigen, die die Welt aus ihren Angeln heben wollen. Muskulöse Menschen. In ihren engen Trikots. Trikots, die nach Schweiß riechen. Trikots, die hundertfach geflickt
werden, weil sie nicht mit dem Muskelwachstum Schritt halten. Trikots, die nur das Notwendigste verhüllen.
Oskar ist so ein Mensch. Er stemmt hunderte Tonnen am Tag. Er scheint verschmolzen zu sein mit seinen Eisengewichten, die er unermüdlich über seinen Kopf stemmt. Immer begleitet mit einem tiefen
lauten Schrei. Seinem Kampfschrei, wenn er wieder einmal die Schwerkraft der Erde bezwingt. Er hat genau drei Gewichte. Eine armlange Eisenstange, an deren Enden jeweils eine Eisenkugel befestigt
ist. Eine einzelne eiserne Kugel mit einem Griff daran. Und einen hüfthohen Eisenblock, auf dem oben ein Bügel angeschweißt ist, mit dem man den Block anheben kann. Die Eisenstange und die
einzelne Kugel mit dem Griff sind seine Aufwärmutensilien. Damit macht er sich heiß. Sein tatsächliches Manegenarbeitswerkzeug ist der hüfthohe Eisenblock. Auf ihm ist mit mächtigen Ziffern die
Zahl 250 aufgemalt. Mit weißer Farbe, die mehr und mehr verblasst. Kaum mehr lesbar und bedrohlich wirkend. Bis jetzt hat es noch nie jemand aus dem Publikum geschafft, diesen Eisenblock auch nur
einen Zentimeter anzuheben. Oskar lächelt dann milde, geht in die Knie, nimmt den Bügel mit beiden Armen, atmet einmal tief ein und mit einem gewaltigen Ruck streckt er seinen ganzen Körper und
der Block gibt sich geschlagen. Das Publikum blickt dann gebannt – nein, nicht auf seine angespannten Oberarme – auf seine Schuhe. Rote, enge, bis zur Mitte seiner festen Waden reichende Stiefel
aus weichem Ziegenleder. All die Last ruht in diesem Moment auf seinen Stiefeln. Die Schnürsenkel dehnen sich gefährlich, wenn er so eine Weile dasteht. Gleich könnten sie reißen und die Stiefel
würden bersten. Kaum ist das Gewicht wieder abgestellt, atmet man erleichtert auf. Die Stiefel entspannen sich und das Publikum tobt begeistert. Hat er die Welt doch wieder an ihren angestammten
Platz gestellt.